Obhutszuteilung im Falle einer psychischen Erkrankung des Elternteils
BGer 5A_474/2023 vom 22.Mai 2024
Im BGer 5A_474/2023 vom 22.Mai 2024 befasste sich das Bundesgericht mit der interessanten Frage der alleinigen Obhutszuteilung im Falle einer psychischen Erkrankung eines Elternteils.
A. Sachverhalt:
A und B heirateten 2020. Sie sind die Eltern des Sohnes C, kurz vor dessen Geburt sie sich trennten. Mehrere Monate vor der Heirat, am 8. Februar 2020, hatte zwischen den Parteien eine Auseinandersetzung stattgefunden, anlässlich derer die Mutter dem Vater mehrere Messerstiche zufügte. Die Staatsanwaltschaft eröffnete deswegen ein Strafverfahren gegen die Mutter. In dessen Rahmen wurde am 8. Juni 2020 ein psychiatrisches Gutachten über sie erstellt, welches ihr eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typus (ICD-10: F60.30), diagnostizierte.
B. Erwägungen:
Unter Erwägung 3.3.1 erinnerte das Bundesgericht daran, dass für die Zuteilung der Obhut an den einen oder anderen Elternteil das Wohl des Kindes Vorrang vor allen anderen Überlegungen, insbesondere vor den Wünschen der Eltern habe. Vor der Zuteilung der Obhut sei vorab die Erziehungsfähigkeit der Eltern zu klären, da die Erziehungsfähigkeit eine unabdingbare Voraussetzung für die Obhutszuteilung sei.
Ist die Erziehungsfähigkeit bei beiden Elternteilen gegeben, könne die Stabilität der örtlichen und familiären Verhältnisse ausschlaggebend für die Zuteilung der Obhut sein.
Als weitere Kriterien zu beachten seien die Bereitschaft eines Elternteils, mit dem andern in Kinderbelangen zusammenzuarbeiten, oder die Forderung, dass eine Zuteilung der Obhut einer persönlichen Bindung und echter Zuneigung getragen sein sollte.
Wesentlich sein, könne ferner der Grundsatz, Geschwister nach Möglichkeit nicht zu trennen. Ist aber bei Geschwistern, zum Beispiel aufgrund eines Altersunterschiedes, von unterschiedlichen Bedürfnissen und insbesondere von verschiedenen emotionalen Bindungen und Wünschen auszugehen, stünde einer Trennung der Kinder nichts entgegen.
Die Möglichkeit der Eltern, die Kinder persönlich zu betreuen, spiele hauptsächlich dann eine Rolle, wenn spezifische Bedürfnisse der Kinder eine persönliche Betreuung notwendig erscheinen lassen oder wenn ein Elternteil auch in den Randzeiten (morgens, abends und an den Wochenenden) nicht bzw. kaum zur Verfügung stünde; ansonsten sei von der Gleichwertigkeit von Eigen- und Fremdbetreuung auszugehen.
Je nach Alter sei auch den Äusserungen der Kinder bzw. ihrem eindeutigen Wunsch Rechnung zu tragen. Während bei älteren Kindern zunehmend die Wohn- und Schulumgebung sowie der sich ausbildende Freundeskreis wichtig werden, sind kleinere Kinder noch stärker personenorientiert. Entsprechend würden im Zusammenhang mit dem wichtigen Kriterium der Stabilität und Kontinuität die Beurteilungsfelder je nach Lebensalter des Kindes variieren.
Das Bundesgericht setzte sich dann unter Erwägung 3.4.1. mit der interessanten Frage auseinander, ob psychische Erkranungen gegen eine Obhutszuteilung sprechen würden. Es hielt fest, dass das Vorliegen einer psychischen Erkrankung nicht per se gegen eine Obhutszuteilung an den entsprechenden Elternteil sprechen würde. Die psychische Störung dürfe diesfalls keinen Einfluss auf die Erziehungsfähigkeit haben oder aber deren konsequente Therapierung könne die Erziehungsfähigkeit in genügendem Masse (wieder-) herstellen. Dies setze grundsätzlich Krankheits- und Behandlungseinsicht voraus.
Im Ergebnis kam das Bundesgericht zu dem Schluss, dass die Vorinstanz, den Sachverhalt willkürlich feststellte, indem sie erstens notwendige Abklärungen unterliess und zweitens einzelne Beweismittel offensichtlich falsch würdigte. Das Bundesgericht wies die Sache an die Vorinstanz zurück, damit diese ein Erziehungsfähigkeitsgutachten über beide Eltern einholen und über die Obhutszuteilung sowie gegebenenfalls die weiteren Kinderbelange neu entscheiden kann.
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